OGH 28.07.2023, 12Ns36/23z

OGH 28.07.2023, 12Ns36/23z

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Sadoghi in der Strafsache gegen * G* und andere Angeklagte wegen des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und 3 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 15 Hv 1/17z des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Anzeige der Ausgeschlossenheit der Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs * und * gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH-Geo 2019 den

Beschluss

gefasst:

Spruch

1. Hofrätin des Obersten Gerichtshofs * ist von der Entscheidung über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten * G*, * M*, * H*, * P*, * S*, * T*, * W* und * F* gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom , GZ 15 Hv 1/17z-4916, ausgeschlossen.

An ihre Stelle tritt Hofrätin des Obersten Gerichtshofs *.

2. Hingegen ist Hofrätin des Obersten Gerichtshofs * von der oben angeführten Entscheidung nicht ausgeschlossen.

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

[1] Der Oberste Gerichtshof hat zu AZ 14 Os 61/23m über die im Spruch genannten Rechtsmittel zu entscheiden.

[2] Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs * und * sind Mitglieder des zuständigen Senats 14.

Zu 1.

[3] Hofrätin des Obersten Gerichtshofs * zeigte ihre Ausgeschlossenheit an, weil ihr Vetter (§ 72 Abs 1 StGB) * im Verfahren als Vertreter der Privatbeteiligten *, die ihren Schadenersatzanspruch auf vom (zu AZ 14 Os 61/23m bekämpften) Schuldspruch (unter anderem zu I.1.A. und VI.1.) erfasste Taten stützte (ON 13), eingeschritten ist (vgl zur Teilnahme an der Hauptverhandlung US 47).

[4] Gemäß § 43 Abs 1 Z 1 StPO ist ein Richter vom gesamten Verfahren ausgeschlossen, wenn (unter anderem) einer seiner Angehörigen Vertreter eines Privatbeteiligten ist.

[5] Hofrätin des Obersten Gerichtshofs * ist daher von der Entscheidung über die in Rede stehenden Rechtsmittel ausgeschlossen.

[6] Hofrätin des Obersten Gerichtshofs * tritt aufgrund der laufenden Vertretungsregelung der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofs an ihre Stelle (§ 45 Abs 2 dritter Satz StPO).

Zu 2.

[7] Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption erhob am zu AZ 127 Hv 19/17w des Landesgerichts für Strafsachen Wien Anklage gegen * M* wegen eines §§ 146, 147 Abs 2 StGB subsumierten Verhaltens. Dem Einspruch gegen die Anklageschrift (§ 212 StPO) gab das Oberlandesgericht Wien mit Entscheidung vom , AZ 19 Bs 9/18i, keine Folge. Hofrätin des Obersten Gerichtshofs * wirkte an dieser Entscheidung als Mitglied des zuständigen Senats mit.

[8] In der Folge bezog das Landesgericht für Strafsachen Wien dieses Verfahren in das bereits zu AZ 15 Hv 1/17z anhängige Hauptverfahren gegen M* und andere Angeklagte ein (§ 37 Abs 3 StPO). Über das Vorliegen subjektiver Konnexität hinaus besteht kein Zusammenhang zwischen den beiden verbundenen Verfahren und den ihnen zugrundeliegenden Tatvorwürfen.

[9] Mit Urteil vom , GZ 15 Hv 1/17z-4916, sprach das Landesgericht für Strafsachen Wien als Schöffengericht M* – soweit hier relevant – von der (ursprünglich) zu AZ 127 Hv 19/17w des Landesgerichts für Strafsachen Wien erhobenen und zuvor genannten Anklage (= Angeklageschrift der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption vom ) gemäß § 259 Z 3 StPO frei (US 99). Eine dagegen angemeldete Nichtigkeitsbeschwerde einer Privatbeteiligten wurde zurückgezogen, sodass der Freispruch rechtskräftig ist.

[10] Hofrätin des Obersten Gerichtshofs * zeigte gemäß § 43 Abs 3 StPO wegen Vorbefasstheit ihre Ausgeschlossenheit an und verwies dazu begründend auf ihre Mitwirkung an der Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien vom über den Einspruch des M* gegen die Anklageschrift im (erst in der Folge einbezogenen) Verfahren AZ 127 Hv 19/17w des Landesgerichts für Strafsachen Wien.

[11] Ein Richter eines Rechtsmittelgerichts ist (unter anderem) ausgeschlossen, wenn er selbst im Verfahren als Richter der ersten Instanz tätig geworden ist (§ 43 Abs 3 erster Fall StPO), ein Richter der ersten Instanz, wenn er selbst (unter anderem) als Richter eines übergeordneten Gerichts tätig geworden ist (§ 43 Abs 3 zweiter Fall). Diese Ausschlussgründe stehen einander „spiegelbildlich“ gegenüber (ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 61; 13 Os 118/12w).

[12] Die hier vorliegende Konstellation der Entscheidung über den Einspruch gegen die Anklageschrift zum einen und über ein Rechtsmittel gegen das erstinstanzliche Urteil im weiteren Verfahren zum anderen wird von § 43 Abs 3 StPO nicht geregelt.

[13] Die Bestimmungen der StPO über die Ausschließung und die Befangenheit sind nach herrschender Meinung analogiefähig (12 Os 96/10z, 12 Ns 39/15d uva; Lässig, WK-StPO Vor §§ 43–47 Rz 5; Ohrnhofer in Schmölzer/Mühlbacher, StPO 12 § 43 Rz 2; Aichinger, LiKStPO § 43 Rz 4; aA Swiderski, Zur Unparteilichkeit des Richters, ÖJZ 2019, 13 [16 ff], der die Möglichkeit planwidriger Unvollständigkeit mit Blick auf die Generalklausel des § 43 Abs 1 Z 3 StPO verneint). Bei der Frage, ob eine (zum Analogieschluss berechtigende) Gesetzeslücke besteht, ist aber im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Ausschließungs- und Befangenheitsnormen ein äußerst strenger Maßstab anzulegen (stRsp; statt vieler 15 Os 80/13y, 12 Ns 3/14h, 12 Ns 13/19m, 11 Os 137/21p; Lässig, WK-StPO Vor §§ 43–47 Rz 5; vgl auch Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 5.148).

[14] Eine solche zur analogen Anwendung des § 43 Abs 3 zweiter Fall StPO führende Gesetzeslücke liegt im Fall der Entscheidung über den Einspruch gegen die Anklageschrift und jener über ein nachfolgendes Rechtsmittel gegen das Urteil erster Instanz „in derselben Sache“ vor (vgl dazu mit ausführlicher Begründung 13 Os 118/12w; vgl Lässig, WK-StPO § 43 Rz 30; zum Begriff „in derselben Sache“ § 68 StPO idF vor BGBl I 2004/19 [nachfolgend kurz: aF] und zur Beachtung dessen Wertungen bei analoger Anwendung des § 69 StPO aF 13 Ns 20/03).

[15] Da die Beurteilung der Ausgeschlossenheit aufgrund von Vorbefasstheit unter Heranziehung einer inhaltlichen Betrachtungsweise erfolgt (Lässig, WK-StPO § 43 Rz 18 f, 28 und 32; Aichinger in LiK-StPO § 43 Rz 26; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 5.158;ähnlich Ohrnhofer in Schmölzer/Mühlbacher, StPO 1² § 43 Rz 13; vgl Kühne in Pabel/Schmahl, IntKomm EMRK Art 6 Rz 309 ff und Meyer-Ladewig/Harrendorf/König in Meyer-Ladewig/
, EMRK4 Art 6 Rz 74 ff je mit Nachweisen aus der Judikatur des EGMR, der Befangenheit aufgrund von Vorbefasstheit nach der Intensität der früheren Auseinandersetzung mit der Sache prüft), ist für die Frage der analogen Anwendung des § 43 Abs 3 StPO der Entscheidungsgegenstand der jeweiligen Verfahrensabschnitte maßgeblich (vgl zu § 43 Abs 4 StPO und den dort ebenfalls verwendeten Begriff „Verfahren“ 15 Os 93/09d; vgl auch 12 Ns 72/14f, wonach für die Gesetzesanalogie die Beurteilung der zur Anklageerhebung notwendigen Verdachtslage entscheidend ist).

[16] Aufgrund Rechtskraft des Freispruchs von der (ursprünglich) zu AZ 127 Hv 19/17w des Landesgerichts für Strafsachen Wien erhobenen Anklage ist dieser nicht Gegenstand des zu AZ 14 Os 61/23m anhängigen Rechtsmittelverfahrens, sodass eine Vorbefasstheit von Hofrätin des Obersten Gerichtshofs * mit demselben Entscheidungsgegenstand nicht vorliegt. Deshalb kommt eine analoge Anwendung der Bestimmung des § 43 Abs 3 zweiter Fall StPO auch auf den Fall der (Vor-)Befassung (allein) mit einer in erster Instanz durch Freispruch rechtskräftig erledigten Anklage – unter Zugrundlegung des gebotenen strengen Maßstabs – nicht in Betracht.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2023:0120NS00036.23Z.0728.000

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