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OGH vom 09.05.2023, 11Os17/23v

OGH vom 09.05.2023, 11Os17/23v

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz als Vorsitzende sowie den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Dr. MichelKwapinski und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Gigl als Schriftführerin in der Strafsache gegen * J* wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1, Abs 3 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom , GZ 115 Hv 30/22g61, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * J* des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1, Abs 3 erster Fall StGB (A./), des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 2 StGB (B./), mehrerer Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (C./), mehrerer Vergehen der sexuellen Belästigung und öffentlichen geschlechtlichen Handlungen nach § 218 Abs 1a StGB (D./) sowie mehrerer Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB (E./) und nach § 212 Abs 1 Z 2, „Abs 3“ StGB (F./) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er in W* und an anderen Orten

A./ im Juli oder August 1999 mit der am * 1986 geborenen, somit unmündigen * G* eine dem Beischlaf gleichzusetzende Handlung unternommen, indem er mit Penetrationsvorsatz ihre Vagina leckte (US 5 f), wobei die Tat eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB), und zwar eine länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung in Form einer Anpassungsstörung zur Folge hatte;

B./ am (außer dem Fall des § 205 Abs 1 StGB) die schlafende und daher wehrlose L* unter Ausnützung dieses Zustands dadurch missbraucht, dass er an ihr eine geschlechtliche Handlung vornahm, indem er ihre nackten Brüste berührte und knetete;

C./ außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen an unmündigen Personen vorgenommen, und zwar

1./ im Juni 2019 sowie von September bis Anfang Dezember 2019 an der am * 2006 geborenen * T*, der am * 2005 geborenen A*, der am * 2005 geborenen S* und der am * 2007 geborenen F*, indem er viermal wöchentlich während einer Dehnübung seine Hand auf deren Gesäß legte und dabei seinen Daumen für etwa eine halbe Minute auf die bekleidete äußere Vagina drückte;

2./ am , indem er die mit einem T-Shirt bedeckte bereits entwickelte rechte Brust der am * 2006 geborenen * T* für zumindest eine Minute streichelte;

D./ im Juni 2019 und von September bis Anfang Dezember 2019 K* „durch wiederholte intensive Berührungen einer der Geschlechtssphäre zuzuordnenden Körperstelle in ihrer Würde verletzt“, indem er viermal wöchentlich während einer Dehnübung seine Hand auf ihr Gesäß legte und dabei mit seinem Daumen auf ihre bekleidete äußere Vagina drückte;

E./ durch die zu A./ und C./ beschriebenen Handlungen mit minderjährigen Personen, die seiner Ausbildung und Aufsicht unterstanden, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber diesen Personen geschlechtliche Handlungen vorgenommen;

F./ durch die zu D./ beschriebene Handlung die (am * 2004 geborene [US 8]) minderjährige K*, die seiner Ausbildung und Aufsicht unterstand, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber dieser Person „sexuell belästigt“.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die aus § 281 Abs 1 Z 3, 5 und 11 StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.

[4] Die Verfahrensrüge (Z 3) reklamiert einen Verstoß gegen § 228 Abs 1 StPO, weil die Hauptverhandlung nach mehreren Unterbrechungen jeweils ohne neuerlichen Aufruf der Sache fortgesetzt worden sei. Damit wird – per se – Nichtigkeit aus Z 3 des § 281 Abs 1 StPO nicht geltend gemacht (Danek/Mann, WK-StPO § 239 Rz 8/1). Hinzugefügt sei, dass nach dem mit der eingeholten Stellungnahme der Vorsitzenden des Schöffengerichts (ON 77) übereinstimmenden Hauptverhandlungsprotokoll (ON 58 S 22, 66 sowie ON 60 S 33, 47) ein (temporärer) Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 229 Abs 1 StPO zu den in der Beschwerde angesprochenen Zeitpunkten nicht stattgefunden hat, sodass es unter den Aspekt des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes auch einer Wiederherstellung anlässlich der Fortsetzung der Hauptverhandlung und der Verkündung des Urteils nicht bedurfte (14 Os 98/16t; vgl erneut Danek/Mann, WK-StPO § 239 Rz 8/1).

[5] Die Feststellungen zur Mitursächlichkeit des sexuellen Missbrauchs (A./) für die von * G* erlittene Anpassungsstörung stützte das Erstgericht auf das Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen (US 14). Soweit die Beschwerde deren Ausführungen zu möglichen anderen Auslösern für die erlittene Gesundheitsschädigung (ON 58 S 28 f) als unvollständig gewürdigt kritisiert (Z 5 zweiter Fall), unterlässt sie die gebotene Berücksichtigung der Gesamtheit des relevierten Beweismittels (RIS-Justiz RS0116504), wonach die Tat „mitverantwortlich für die Anpassungsstörung“ (ON 58 S 29) war (zum Ausreichen von Mitkausalität für die strafrechtliche Zurechnung vgl RIS-Justiz RS0091997 [T2]).

[6] Die weitere Mängelrüge (Z 5 vierter Fall) behauptet, die Vorsitzende habe den protokollierten Satz, wonach „gemäß § 252 Abs 2a StPO […] einverständlich der gesamte Akteninhalt zusammengefasst vorgetragen“ wird, insbesondere einzeln genannte Ordnungsnummern (ON 60 S 46) nur ausgesprochen, ohne dass ein tatsächlicher Vortrag stattgefunden hätte. Mit der Argumentation, dass solcherart Teile der vom Erstgericht zur Urteilsbegründung herangezogenen Beweisergebnisse nicht in der Hauptverhandlung vorgekommen seien, orientiert sie sich nicht am Inhalt des – unbeanstandet gebliebenen und unbedenklichen (vgl auch die Stellungnahme der Vorsitzenden ON 1 S 30) – Hauptverhandlungsprotokolls. Einen diesbezüglichen Antrag auf Berichtigung gemäß § 271 Abs 7 StPO hat der Angeklagte nicht gestellt (RIS-Justiz RS0098679).

[7] Im Übrigen fand auch die (teils auf die wesentlichen Passagen reduzierte) Vorführung der Videoaufzeichnungen über die kontradiktorischen Vernehmungen mehrerer Zeuginnen (ON 58 S 67) sehr wohl im Rahmen des Beweisverfahrens statt und handelte es sich nicht um einen bloßen „Vorhalt“ gegenüber dem Angeklagten, durch welchen der Inhalt der Beweismittel nicht im Sinn des § 258 Abs 1 StPO in der Hauptverhandlung vorgekommen wäre (vgl RIS-Justiz RS0113446 [T3]). Selbst Beweise, die nach erklärtem Schluss des Beweisverfahrens – und nicht nur nach dessen Unterbrechung durch allenfalls ergänzende Vernehmung des Angeklagten (vgl im Übrigen § 248 Abs 3 StPO) – aufgenommen wurden, sind im Urteil zu berücksichtigen, denn der Sache nach wird durch die Aufnahme solcher Beweise das Beweisverfahren wiedereröffnet (vgl Danek/Mann, WK-StPO § 255 Rz 2).

[8] Ebenso durften die von der Privatbeteiligtenvertreterin vorgelegten, * G* zeigenden Fotos (ON 60 Blg ./A und ./B) entgegen dem Beschwerdevorbringen zur Urteilsbegründung verwendet werden. Denn diese wurden – wie sich schon aus deren Beschreibung im Hauptverhandlungsprotokoll ergibt (ON 60 S 46) – in Augenschein genommen (vgl Lendl, WK-StPO § 258 Rz 5) und dem Angeklagten vorgelegt, der sich auch dazu äußerte (vgl Kirchbacher, WK-StPO § 253 Rz 3, 5).

[9] Der Einwand unzureichender Begründung (Z 5 vierter Fall) der (zu A./ getroffenen) Konstatierung zum bedingten Vorsatz auf Zufügung einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung in Form einer Anpassungsstörung (US 6) lässt außer Acht, dass diese nicht nur auf die allgemeine Lebenserfahrung, sondern in zulässiger Weise (RIS-Justiz RS0116882) auch auf das äußere Tatgeschehen gestützt wurde (vgl „ein derartiger sexueller Übergriff bei einer noch unmündigen Person“ [US 14]).

[10] Die Ausführungen zur Fahrlässigkeit in Bezug auf den Veretzungserfolg im Sinn des § 206 Abs 3 erster Fall StGB sind unverständlich, weil dem Angeklagten auch insoweit vorsätzliches Handeln zur Last liegt (US 6).

[11] Dass dem Angeklagten (zu E./) seine besondere Stellung als Aufsichts- und Autoritätsperson bewusst war und er diese gezielt wissentlich und willentlich ausnützte, um an * G* die dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung vorzunehmen (US 6 f), leitete das Erstgericht – unter dem Aspekt der Begründungstauglichkeit unbedenklich (nochmals RIS-Justiz RS0116882) – aus der allgemeinen Lebenserfahrung in Zusammenhalt mit – vom Beschwerdeführer übergangen (siehe aber RIS-Justiz RS0119370) – dem objektiven Geschehen ab (vgl zur generellen Ableitung der Feststellungen zur subjektiven Tatseite betreffend die Tat zum Nachteil der * G* aus dem äußeren Tatgeschehen: US 14). Demnach hat der Angeklagte die Unmündige zu einem Training eingeladen, sie vom Zug abgeholt, zum Training begleitet und mit zu sich nach Hause genommen (US 6), wobei die Tatrichter auch die Schilderung der Zeugin, „dass sie sich nicht getraut habe, nein zu sagen, da der Angeklagte sie nachher ja auch noch zum Zug gebracht habe und sie in gewisser Weise abhängig von ihm gewesen sei“ (US 15), in ihre Überlegungen miteinbezogen.

[12] Ebenso negiert das Rechtsmittel, dass die Konstatierung des wissentlichen und willentlichen Ausnützens des wehrlosen Zustands der L* durch den Angeklagten (B./ [US 8]) auch aus dem objektiven Geschehensablauf geschlossen wurde (US 18).

[13] Die Sanktionsrüge (Z 11 dritter Fall) vermisst Ausführungen zum konkreten Ausmaß der Reduktion der Strafe aufgrund der – bei der Strafbemessung berücksichtigten (US 35) – langen Verfahrensdauer. Damit zeigt sie keine dem Urteil anhaftende Nichtigkeit auf, sondern erstattet bloß ein Berufungsvorbringen (RIS-Justiz RS0114926 [T5]).

[14] Angemerkt sei, dass die Feststellungen zu D./ und F./ zum Nachteil der K* (US 8 ff) – wie im Urteil angemerkt (US 33) – eine Subsumtion nur nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB tragen würden. Weil dieser Subsumtionsfehler (Z 10) dem Angeklagten jedoch nicht zum Nachteil gereicht, besteht kein Anlass für ein amtswegiges Vorgehen im Sinn des § 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO (vgl RIS-Justiz RS0118870).

[15] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen folgt (§ 285i StPO).

[16] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2023:0110OS00017.23V.0509.000

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