OGH vom 13.09.2022, 10ObS80/22w
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober (Senat gemäß § 11a Abs 3 Z 1 ASGG) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei B*, vertreten durch Dr. Alexander Knotek und Mag. Florian Knotek, Rechtsanwälte in Baden, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1051 Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. Eva-Maria Bachmann-Lang und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 9 Rs 35/22s-13, mit dem infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 9 Cgs 164/21w-9, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Aus Anlass der Revision wird das angefochtene Urteil als nichtig aufgehoben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung in einem Senat aufgetragen, dem jeweils ein fachkundiger Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber und aus dem Kreis der Arbeitnehmer angehört.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Kosten des Rechtsmittelverfahrens.
Text
Begründung:
[1] Mit Bescheid vom gewährte die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen der Klägerin ausgehend von einem Pflegeaufwand von 73 Stunden im Monat ab Pflegegeld der Stufe 1.
[2] Mit ihrer Klage strebt die die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 3 an, weil der Pflegeaufwand tatsächlich 111 Stunden betrage.
[3] Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin ab Pflegegeld der Stufe 2 in gesetzlicher Höhe zu zahlen und wies das Mehrbegehren ab.
[4] Das von der Beklagten angerufene Berufungsgericht bestätigte in nichtöffentlicher Sitzung die erstgerichtliche Entscheidung mit einer Maßgabe und sprach aus, dass die Revision an den Obersten Gerichtshof nicht zulässig sei. Dem Senat gehörten neben der vorsitzenden Senatspräsidentin, einer Berufsrichterin und einem Berufsrichter zwei fachkundige Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber an.
[5] Gegen diese Entscheidung richtet sich die der Beklagten, mit der sie den Zuspruch eines höheren Pflegegelds als jenem der Stufe 1 bekämpft.
[6] In der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt die Klägerin, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[7] Aus Anlass des zulässigen Rechtsmittels ist von Amts wegen die Nichtigkeit der angefochtenen Entscheidung wahrzunehmen.
[8] 1. Gemäß § 12 Abs 1 zweiter Halbsatz ASGG haben die fachkundigen Laienrichter vorbehaltlich des § 12 Abs 3 zweiter Halbsatz ASGG je zur Hälfte dem Kreis der Arbeitgeber und dem Kreis der Arbeitnehmer anzugehören. In Sozialrechtssachen ist daher im Regelfall in paritätischer Besetzung zu verhandeln und zu entscheiden (Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 12 ASGG Rz 2). Davon ausgenommen sind nach § 12 Abs 3 zweiter Halbsatz ASGG Streitsachen nach dem GSVG, dem BSVG, dem FSVG, dem Betriebshilfegesetz, und – wenn der Kläger ein Notar ist – nach dem NVG, in denen alle fachkundigen Laienrichter dem Kreis der Arbeitgeber anzugehören haben.
[9] 2. In der Entscheidung 10 ObS 283/98k (SSVNF 12/116) sprach der Oberste Gerichtshof aus, dass es sich beim Anspruch eines gewerblich Selbständigen auf Pflegegeld nach dem BPGG, den dieser (nach § 6 Abs 2 Z 1 BPGG) gegen den Träger der Unfallversicherung geltend machte, um eine „Streitsache nach dem GSVG“ iSd § 12 Abs 3 ASGG handelt, sodass beide fachkundigen Laienrichter dem Kreis der Arbeitgeber anzugehören haben (RISJustiz RS0085526 [T2], RS0110593; so auch Neumayr in ZellKomm3 § 12 ASGG Rz 2 und Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 Rz 8.61 FN 1601). Darauf aufbauend erfolgte die Senatsbildung in Pflegegeldsachen Selbständiger in der Folge auch stets nach § 12 Abs 3 zweiter Halbsatz ASGG (zB 10 ObS 153/09m SSVNF 23/73; 10 ObS 113/09d SSVNF 23/74; 10 ObS 167/09w SSVNF 23/80; 10 ObS 30/10z SSVNF 24/22; 10 ObS 81/10z).
[10] 3. Diese Ansicht ist angesichts der jüngeren Rechtsprechung zu § 12 Abs 3 ASGG in Kinderbetreuungsgeldsachen nicht aufrecht zu erhalten.
[11] 3.1. Zu 10 ObS 86/18x hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass in Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche nach dem KBGG die Senate nach der allgemeinen Regel des § 12 Abs 1 ASGG zu bilden sind. Begründet wurde dies damit, dass sich die Berechtigung derartiger Ansprüche ausschließlich aus den Bestimmungen des KBGG ergibt und sich nur die Zuständigkeit des in Anspruch genommenen Krankenversicherungsträgers aus den §§ 25, 28 KBGG ableitet. Da Rechtsstreitigkeiten nach dem KBGG nicht unter den Ausnahmefällen des § 12 Abs 3 zweiter Halbsatz ASGG aufgezählt sind, kommt dieser nicht zum Tragen.
[12] 3.2. Diese Grundsätze sind auf den vorliegenden Fall übertragbar. Auch hier ergeben sich die Voraussetzungen für die Berechtigung des verfolgten Anspruchs ausschließlich aus dem BPGG selbst. Die Bestimmungen des GSVG sind nur insoweit relevant, als jener Sozialversicherungsträger zur Entscheidung über Ansprüche nach dem BPGG sowie zur Auszahlung der Leistungen berufen ist, der auch für die Gewährung der Grundleistung zuständig ist (§ 22 Abs 1 und § 17 Abs 3 BPGG; siehe auch § 6 Abs 2 BPGG). Um eine Streitsache „nach“ dem GSVG, das heißt nach dessen Bestimmungen, handelt es sich bei Ansprüchen, die auf das BPGG gestützt werden, nicht. Darüber geführte Verfahren sind auch nicht Teil des Ausnahmenkatalogs des § 12 Abs 3 zweiter Halbsatz ASGG, sodass es bei der Grundregel des § 12 Abs 1 ASGG zu bleiben hat und die Senate paritätisch zu besetzen sind.
[13] 4. Das Berufungsgericht, dem zwei fachkundige Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber angehörten, war daher nicht vorschriftsmäßig besetzt, was seine Entscheidung nach § 477 Abs 1 Z 2 ZPO nichtig macht (RS0042176 [T7]; 10 ObS 117/10v SSV-NF 24/66; 10 ObS 86/18x).
[14] 4.1. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die vorschriftswidrige Besetzung des Berufungsgerichts in der Revision nicht gerügt wurde, weil die Nichtigkeit deswegen nicht geheilt ist. Zwar bezieht sich die Heilungsvorschrift des (nunmehr:) § 260 Abs 2 ZPO nach der auf die Entscheidung 3 Ob 246/98t zurückgehenden Rechtsprechung nicht nur auf die mündliche Verhandlung. Der Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 2 ZPO kann demnach vom Rechtsmittelgericht nicht (mehr) von Amts wegen aufgegriffen werden, wenn der Besetzungsfehler außerhalb der mündlichen Verhandlung, also insbesondere im Rechtsmittel, gerügt werden hätte können, dies aber unterlassen wurde (7 Ob 236/16f; 4 Ob 60/15z; 1 Ob 36/13w; ua; Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka, ZPO5 §§ 260–261 Rz 17). Diese Ansicht gilt aber nicht in Verfahren, auf die § 37 ASGG anzuwenden ist. In diesem Fall kommt es nicht zu einer Heilung, wenn die Entscheidung des Berufungsgerichts in nichtöffentlicher Sitzung ohne vorhergehende mündliche Verhandlung erfolgte und die – qualifiziert vertretenen (§ 40 Abs 1 ASGG) – Parteien daher keine Möglichkeit hatten, die vorschriftswidrige Zusammensetzung des Senats geltend zu machen (RS0042176 [T4]; RS0040259; RS0113739). Kommt es zu keiner Heilung in dieser Form, kann die unrichtige Gerichtsbesetzung im Rechtsmittelverfahren – auch ohne ausdrückliche Geltendmachung durch die Parteien – von Amts wegen aufgegriffen werden (10 ObS 44/17v; 10 ObS 7/18d ua; so auch G. Kodek in Fasching/Konecny3 § 260 ZPO Rz 32/1 und 44; Garber/Neumayr, COVID-19, Nichtigkeit des Zivilprozesses und amtswegige Wahrnehmung, Zak 2021/447, 246 [249]).
[15] 4.2. Ob zusätzlich schon das Erstgericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war, kann demgegenüber dahinstehen. Zwar lässt sich aus den Akten nicht ableiten, welchem Kreis die in erster Instanz entscheidenden Laienrichter angehörten. Es steht jedoch fest, dass die Parteien qualifiziert vertreten waren (§ 40 Abs 1 ASGG) und sich in die Verhandlung zur Hauptsache eingelassen haben, ohne eine allfällige unrichtige Senatszusammensetzung zu rügen. Eine schon das erstinstanzliche Verfahren betreffende Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 Z 2 ZPO wäre daher in jedem Fall geheilt (RS0085526 [T1]; 10 ObS 65/14b SSV-NF 28/40 ua).
[16] 5. Aus Anlass des zulässigen Rechtsmittels ist das angefochtene Urteil daher als nichtig aufzuheben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung in vorschriftsgemäßer Besetzung aufzutragen.
[17] Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO. Da nur die Entscheidung ohne ein vorausgegangenes Verfahren aufgehoben wurde, findet § 51 ZPO keine Anwendung (RS0035870).
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00080.22W.0913.000 |
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