OGH 28.09.2023, 10ObS79/23z

OGH 28.09.2023, 10ObS79/23z

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei L*, vertreten durch Mag. Peterpaul Suntinger, Rechtsanwalt in Klagenfurt am Wörthersee, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Rs 40/23w-22, mit dem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom , GZ 12 Cgs 167/22v-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1] Die 1940 in der Ukraine geborene Klägerin ist ukrainische Staatsbürgerin.

[2] Sie floh wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine nach Österreich, wo sie jedenfalls seit aufhältig und auch gemeldet ist. Sie verfügt über einen am vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ausgestellten „Ausweis für Vertriebene“.

[3] Die Klägerin bezieht und bezog keine Leistungen im Sinn des § 3 Abs 1 BPGG, weder aus Österreich noch aus dem EU bzw EWRRaum. Ihr wurde eine solche (Grund)Leistung auch nicht zuerkannt.

[4] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob sie zum Kreis der – bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen – anspruchsberechtigten Personen nach § 3a Abs 2 BPGG gehört.

[5] Mit vom wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom auf Gewährung von Pflegegeld mit Verweis auf den von §§ 3, 3a BPGG erfassten Personenkreis ab.

[6] Mit ihrer Klage begehrt die , ihr Pflegegeld (im gesetzlichen Ausmaß) zu gewähren. Sie stützt sich dabei im Wesentlichen darauf, dass sie nach Unionsrecht hinsichtlich ihres Anspruchs auf Pflegegeld österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt sei.

[7] Die Beklagte hält dem entgegen, dass die Klägerin zwar über ein auf § 62 AsylG gegründetes befristetes Aufenthaltsrecht verfüge, das aber nicht unter die in § 3a Abs 2 Z 4 BPGG genannten Aufenthaltstitel falle. Implizit lehnt sie auch eine Gleichstellung im Sinn des § 3a Abs 2 Z 1 BPGG ab.

[8] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Die Klägerin könne ihren Anspruch nicht auf § 3a Abs 2 Z 1 BPGG stützen, weil sich die von ihr behauptete Gleichstellung aus dem Unionsrecht nicht ergebe:

[10] Die Richtlinie 2001/55/EG (Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten; künftig: MassenzustromRL) scheide als Grundlage dafür aus, weil sie sich nach deren Art 34 nur an die Mitgliedstaaten richte und im Hinblick auf die medizinische Versorgung nur die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten gewähre (Art 13 Abs 2 Satz 2), wozu das Pflegegeld aber nicht zähle. Die Klägerin falle auch nicht unter den in Art 13 Abs 4 MassenzustromRL genannten Personenkreis. Eine Gleichstellung ergebe sich auch nicht aus der Richtlinie 2011/95/EU (Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes; künftig: StatusRL), weil diese nur Personen erfasse, die bereits internationalen Schutz genießen. Auf die Klägerin, der bislang weder die Flüchtlingseigenschaft noch ein subsidiärer Schutz zuerkannt worden sei, treffe das nicht zu; dass ihr ein solcher Status zuzuerkennen wäre, reiche nicht aus.

[11] Es scheide auch eine (analoge) Anwendung des § 3a Abs 2 Z 4 BPGG aus, weil es sich bei den dort genannten Aufenthaltstiteln um eine taxative Aufzählung handle.

[12] Die Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.

[13] Gegen dieses Urteil richtet sich die der Klägerin mit dem Antrag, der Klage stattzugeben. Hilfsweise stellt sie auch einen Aufhebungsantrag.

[14] Die Beklagte beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

[15] Die Revision ist zulässig und im Umfang des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[16] 1. Der Oberste Gerichtshof hat sich erst unlängst mit dem Pflegegeldanspruch von Vertriebenen ukrainischen Staatsangehörigen befasst und diesen nach eingehender Darstellung der Rechtslage bejaht (10 ObS 62/23z). Die auch hier maßgeblichen Kernaussagen dieser (am im RIS veröffentlichten) Entscheidung lauten:

[17] 2.§ 3a Abs 1 BPGG gewährt Anspruch auf Pflegegeld auch ohne Grundleistung für österreichische Staatsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. Diesen gleichgestellt sind (unter anderem) Fremde, wenn sich eine Gleichstellung aus Staatsverträgen oder Unionsrecht ergibt (§ 3a Abs 2 Z 1 BPGG).

3. Zur StatusRL

[18] Zwar verpflichtet Art 29 StatusRL die Mitgliedstaaten, Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde, die „notwendige Sozialhilfe“ wie Staatsangehörigen des Mitgliedstaats zu gewährleisten, wobei die Leistung für Personen, denen (nur) der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, auf Kernleistungen beschränkt werden kann. Zudem haben die Mitgliedstaaten nach Art 30 StatusRL zugunsten von Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde, für den Zugang zu medizinischer Versorgung zu denselben Bedingungen wie die eigenen Staatsangehörigen Sorge zu tragen. Diese Rechte gelten aber nur für Personen, denen aufgrund des materiellen Vorliegens der einen oder anderen Schutzform (als Flüchtling oder Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz) internationaler Schutz zuerkannt, denen also ein Status verliehen wurde.

4. Zur MassenzustromRL

[19] 4.1. Kern der MassenzustromRL ist die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Sinn ihres Art 2 lit a. Nach dieser Legaldefinition bezeichnet der Ausdruck „vorübergehender Schutz“ ein ausnahmehalber durchzuführendes Verfahren, das im Falle eines Massenzustroms oder eines bevorstehenden Massenzustroms von Vertriebenen aus Drittländern, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, diesen Personen sofortigen, vorübergehenden Schutz garantiert, insbesondere wenn auch die Gefahr besteht, dass das Asylsystem diesen Zustrom nicht ohne die Beeinträchtigung seiner Funktionsweise und ohne Nachteile für die betroffenen Personen oder andere um Schutz nachsuchende Personen auffangen kann.

[20] 4.2. Ukrainische Staatsangehörige genießen nach Art 2 Abs 1 lit a des gemäß Art 5 MassenzustromRL ergangenen Durchführungsbeschlusses 2022/382/EU des Rates vom (zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinn des Art 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes; künftig: Durchführungsbeschluss des Rates [ABl L 71/1 vom ]) vorübergehenden Schutz im Sinn des MassenzustromRL, wenn sie vor dem ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten und am oder nach dem infolge der an diesem Tag begonnenen militärischen Invasion der russischen Streitkräfte aus der Ukraine vertrieben wurden.

[21] 4.3. Der Inhalt des vorübergehenden Schutzes nach der MassenzustromRL ergibt sich aus ihrem Kapitel III („Pflichten der Mitgliedstaaten gegenüber Personen, die vorübergehenden Schutz genießen“), der vor allem soziale Rechte im Bereich der Wohnversorgung, Sozialleistungen und medizinischen Versorgung (Art 13) verschafft. Art 13 MassenzustromRL lautet auszugsweise:

„(2): Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Personen, die vorübergehenden Schutz genießen, die notwendige Hilfe in Form von Sozialleistungen und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie im Hinblick auf die medizinische Versorgung erhalten, sofern sie nicht über ausreichende Mittel verfügen. Unbeschadet des Absatzes 4 umfasst die notwendige Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung mindestens die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten.

[…]

(4): Die Mitgliedstaaten gewähren Personen, die vorübergehenden Schutz genießen und besondere Bedürfnisse haben, beispielsweise unbegleitete Minderjährige oder Personen, die Opfer von Folter, Vergewaltigung oder sonstigen schwerwiegenden Formen psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt geworden sind, die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe.“

[22] Nach ErwGr 15 der MassenzustromRL sollen die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Aufnahme und den Aufenthalt von Personen, die im Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen durch den vorübergehenden Schutz begünstigt werden, „angemessen sein und den betreffenden Personen ein adäquates Schutzniveau bieten“.

[23] 4.4. Auf die Frage, ob das Pflegegeld im Licht der Judikatur des EuGH zur VO (EWG) 1408/71 bzw nunmehr zur VO (EG) 883/2004 von der „notwendige[n] Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung“ oder der „notwendige[n] Hilfe in Form von Sozialleistungen“ gemäß Art 13 Abs 2 MassenzustromRL erfasst ist, kommt es nicht an. Denn Art 13 Abs 4 MassenzustromRL enthält eine Sonderregelung für Personen, die vorübergehenden Schutz genießen und besondere Bedürfnisse haben: Diese haben einen Anspruch auf „die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe“, die nach der ausdrücklichen Anordnung des Art 13 Abs 2 Satz 2 MassenzustromRL jedenfalls über den Mindeststandard der „notwendige[n] Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung“ hinausgeht.

[24] 4.5. Die Aufzählung der Personen mit besonderen Bedürfnissen in Art 13 Abs 4 MassenzustromRL ist demonstrativ ausgestaltet („beispielsweise“). Sie unterstellt den darin aufgezählten Personengruppen – unbegleiteten Minderjährigen sowie Personen, die besondere Formen von Gewalt erlebt haben – typisiert einen gesteigerten Hilfsbedarf. Ein besonderer Hilfsbedarf besteht aber – unabhängig von den diesem Bedarf zugrunde liegenden Gründen – auch bei Personen, die aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung einen ständigen Betreuungs- und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) im Sinn des § 4 Abs 1 BPGG haben. Diese Personengruppe ist daher von Art 13 Abs 4 MassenzustromRL erfasst.

[25] 4.6. Für die Beurteilung der Frage, ob es sich beim Pflegegeld um eine „erforderliche“ Hilfe im Sinn des Art 13 Abs 4 MassenzustromRL handelt, ist auf die Wertungen zurückzugreifen, die der Rechtsprechung zur Einbeziehung von subsidiär Schutzberechtigten in den Kreis der Anspruchsberechtigten gemäß § 3a BPGG zugrunde liegen (10 ObS 153/13t SSV-NF 27/87; 10 ObS 161/13v DRdA 2014/44, 435 [Windisch-Graetz/Mrvosevic]; 10 ObS 1/14s; 10 ObS 3/14k). Danach zählt das Pflegegeld zu den „Kernleistungen“ bei Krankheit im Sinn des Art 29 Abs 2 StatusRL aF (RL 2004/83/EG).

[26] 4.7. Diese Wertung ist auch im vorliegenden Zusammenhang maßgeblich und führt dazu, das Pflegegeld als Leistung anzusehen, die für die Gruppe der pflegebedürftigen Personen als „erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe“ im Sinn des Art 13 Abs 4 MassenzustromRL zu qualifizieren ist. Eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 3a Abs 2 Z 1 BPGG gebietet es daher, diese Personengruppe im Hinblick auf den Anspruch auf Pflegegeld den österreichischen Staatsbürgern gleichzustellen. Personen, die vorübergehenden Schutz nach der MassenzustromRL genießen, zählen daher zu dem gemäß § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfassten Personenkreis und haben bei Erfüllung der Voraussetzungen Anspruch auf Pflegegeld.

[27] 5. Nach diesen, auch im vorliegenden Fall maßgeblichen Grundsätzen gehört die Klägerin zu dem von § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfassten Personenkreis. Zwar wird sie nicht – wie schon das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat – vom Anwendungsbereich der StatusRL erfasst, weil ihr bislang kein internationaler Schutz (als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigte) zuerkannt wurde. Allerdings ist unstrittig, dass sie unter die im Durchführungsbeschluss des Rates (vom ) genannten Personengruppe fällt. Als Vertriebene im Sinn des Art 2 lit c MassenzustromRL genießt sie daher vorübergehenden Schutz, der sie im Hinblick auf den Anspruch auf Pflegegeld österreichischen Staatsbürgern gleichstellt.

[28] Angesichts dessen kommt eine Klageabweisung aus dem von den Vorinstanzen herangezogenen Grund nicht in Betracht. Das Verfahren erweist sich folglich als ergänzungsbedürftig, weil die Vorinstanzen auf Basis ihrer vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Ansicht bislang keine Feststellungen zum Pflegebedarf der Klägerin getroffen haben.

[29] Die Revision ist daher im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[30] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00079.23Z.0928.000

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