Rückforderung von Familienbeihilfe bei vorrangiger Zuständigkeit der Schweiz
Entscheidungstext
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter ***Ri*** in der Beschwerdesache ***Bf.***, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom , Ordungsbegriff: ***OB***, betreffend die Rückforderung von Familienbeihilfe und Kinderabsetzbeträgen für das Kind, ***K.***, VNR: ***000***, zu Recht erkannt:
I. Die Beschwerde wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.
II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensgang
Mit dem am beim Finanzamt eingelangten Formular "Beih 100" beantragte die Beschwerdeführerin (Bf.) die Zuerkennung der Familienbeihilfe für ihr Kind ***K.***.
In einer am eingelangten Beantwortung eines Anspruchsüberprüfungsschreibens teilte die Bf. dem Finanzamt mit, dass seit Jahren kein Kontakt zum leiblichen Vater mehr bestehe und deshalb keine Angaben zum leiblichen Vater erfolgen könnten. Beigelegt wurden eine Schulbesuchsbestätigung für das im angefochtenen Bescheid genannte Kind sowie ein Bescheid der Bezirkshauptmannschaft *** vom über die Zuerkennung von Sozialhilfe zur Unterstützung des Lebensunterhalts und zur Befriedigung des Wohnbedarfs.
In dessen Begründung ist u.a. angeführt, dass die Bf. für ihren minderjährigen Sohn keinen Unterhalt bzw. Unterhaltsvorschuss erhalte.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom forderte das Finanzamt die für die Zeiträume Mai 2022 bis November 2023 bezogene Familienbeihilfe sowie für die Zeiträume Mai 2022 bis Juli 2022, September 2022 bis Juli 2023 und September 2023 bis November 2023 bezogenen Kinderabsetzbeträge gemäß § 26 Abs. 1 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG 1967) iVm § 33 Abs. 3 Einkommensteuergesetz 1988 (EStG 1988) zurück.
Dies mit folgender Begründung:
"Für die Familienleistungen ist jener Staat vorrangig zuständig, in dem eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird (Verordnung (EG) Nr. 883/2004). Werden Erwerbstätigkeiten in mehreren Staaten ausgeübt, ist jener Staat für die Familienleistungen zuständig, in dem das Kind oder die Kinder leben. Für einen Monat steht Familienbeihilfe nur einmal zu (§ 10 Abs. 4 Familienlastenausgleichsgesetz 1967). Sie haben keine Erwerbstätigkeit in Österreich. Der Kindesvater ist in der Schweiz wohnhaft und beschäftigt. Laut Unterlagen der Familienausgleichskasse SVA Zürich werden die Familienleistungen seit in der Schweiz bereits ausbezahlt. Daher besteht vorrangig Anspruch auf Familienleistungen in der Schweiz. In Österreich besteht nur Anspruch auf die Ausgleichszahlung. Diese wurde gewährt."
Dagegen richtet sich die Beschwerde vom .
Die Bf. bringt darin im Wesentlichen vor, dass sie im August 2020 mit ihrem Sohn von der Schweiz zurück nach Österreich übersiedelt sei, um ihre im Rollstuhl sitzende und pflegebedürftige Mutter, die auf eine 24-Stunden-Pflege angewiesen sei, zu pflegen. Daher sei sie in Österreich auch nicht berufstätig. Bereits in der Schweiz sei das Verhältnis zum Kindesvater schwierig gewesen und es hätten in Unterhalts- und Sorgerechtsfragen keine Lösungen gefunden werden können. Der Kindesvater verweigere seit Jahren jegliche Unterhaltszahlungen für das Kind. Die Bf. habe in Österreich eine Unterhaltsklage gegen den Kindesvater eingebracht und versuche nun laufend den geschuldeten Unterhaltsanspruch in der Schweiz exekutionsweise durchzusetzen. Da der Lebensmittelpunkt der Bf. in Österreich liege und ihr Sohn in Österreich das Gymnasium besuche, habe sie in Österreich die Zuerkennung der Familienbeihilfe beantragt. Bis zum Erhalt des Rückforderungsbescheides habe sie keine Kenntnis gehabt, dass der Kindesvater in der Schweiz Familienleistungen beantragt habe und diese ausbezahlt bekomme, obwohl das Kind der Bf. zu keinem Zeitpunkt im Haushalt des Kindesvaters gelebt habe.
Die Bf. habe das alleinige Sorgerecht, da dem Vater im Rahmen des Obsorgeverfahrens die gemeinsame Obsorge entzogen worden sei.
Auch ein vom Kindesvater angestrengtes Vaterschaftsanfechtungsverfahren vor dem Bezirksgericht habe ihn nicht davon abgehalten, weiterhin Familienleistungen in der Schweiz zu beziehen. Er lasse sich seit Jahren Familienleistungen in der Schweiz ausbezahlen, welche er dem minderjährigen Kind vorenthalte und zweckentfremde, um sich an diesen Leistungen zum Nachteil des Kindes zu bereichern.
Durch die Handlungen des Kindesvaters würden dem Sohn der Bf. erhebliche Nachteile entstehen und seine Teilhabechancen sowie die soziale Gerechtigkeit massiv eingeschränkt.
Da Familienleistungen für den Zwecke bestimmt seien, Familien zu entlasten, und zwar dort, wo Erziehungsarbeit und Lebensmittelpunkt seien, könne es nicht sein, dass diese Leistungen Personen zukommen würden, die keinen Anteil an der Versorgung sowie Erziehungsarbeit übernehmen würden. Durch das Zuständigkeitsprinzip der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sei es dem Vater möglich gewesen, jahrelang Leistungen zu Unrecht zu beziehen. Dieser Umstand werde der Bf. nun mit dem gegenständlichen Rückforderungsbescheid zur Last gelegt. Diese Angelegenheit beinhalte eine weitreichende Tragik, da nicht anzunehmen sei, dass der Kindesvater die in der Schweiz an ihn ausbezahlten Familienleistungen weitergeben werde und sich somit die existenzielle Situation für das Kind noch zusätzlich verschärfen werde. Die Aussicht auf Regulierung durch den Kindesvater habe das gleiche Erfolgspotential wie die exekutionsweise Einbringung des geschuldeten Kindesunterhalts. Diese Umstände würden für die Bf. und ihr Kind eine soziale Härte darstellen.
In einer der Beschwerde beigefügten Bestätigung des Rechtsvertreters der Bf. heißt es:
Das Finanzamt Österreich wies die Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung vom als unbegründet ab. In der Begründung führte die belangte Behörde aus: "Für die Familienleistungen ist jener Staat vorrangig zuständig, in dem eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird (Verordnung (EG) Nr. 883/2004). Werden Erwerbstätigkeiten in mehreren Staaten ausgeübt, ist jener Staat für die Familienleistungen zuständig, in dem das Kind oder die Kinder leben. Sie geben in Ihrer Beschwerde an, dass Sie in Österreich nicht erwerbstätig sind, weil Sie Ihre Mutter zuhause pflegen. Weiters geben Sie an, dass der Kindesvater seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht nachkommt und auch die Kinderzulage nie an Sie weitergeleitet hat. Gemäß der Verordnung (EG) 883/2004 besteht vorrangiger Anspruch auf Familienleistungen, in dem Land, in dem eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Der Kindesvater ist in der Schweiz erwerbstätig. Dadurch ist die Schweiz vorrangig für die Zahlungen der Familienleistungen zuständig. Die Rückforderung der Familienbeihilfe ist daher zu Recht erfolgt."
Die Bf. brachte daraufhin fristgerecht einen Vorlageantrag ein. Mit der fristgerechten Einbringung dieses Vorlageantrages gilt die Bescheidbeschwerde wiederum als unerledigt (§ 264 Abs. 3 BAO).
Mit Vorlagebericht vom legte das Finanzamt die Beschwerde samt den Verfahrensakten dem Bundesfinanzgericht vor:
II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin (Bf.) hat ihren Wohnsitz im Inland. Sie ist österreichische Staatsangehörige und Mutter des in ihrem Haushalt lebenden Kindes ***K.***. Die Bf. war im Rückforderungszeitraum nicht erwerbstätig. Sie bezog Sozialhilfe zur Unterstützung des Lebensunterhalts sowie zur Befriedigung des Wohnbedarfs nach den Bestimmungen des Oö. SOHAG.
Sie bezog im hier maßgeblichen Rückforderungszeitraum auch Familienbeihilfe sowie gemäß § 33 Abs. 3 EStG 1988 den Kinderabsetzbetrag.
Der von der Bf. getrennt lebende Kindesvater, Herr ***KV***, war im Rückforderungszeitraum in der Schweiz wohnhaft und erwerbstätig.
Im Rahmen des elektronischen Austauschs von Sozialversicherungsdaten ("EESSI") und der daran anknüpfenden IT-Anwendung "ELISA" (Europäischer-Leistungs-Informations-Austausch) der österreichischen Finanzverwaltung teilte die zuständige schweizerische Behörde am dem Finanzamt mit, dass dem in der Schweiz wohnhaften Kindesvater von Mai 2022 bis März 2025 die monatlichen Familienleistungen in Höhe von 250,00 CHF in der Schweiz ausbezahlt wurden bzw. werden.
2. Beweiswürdigung
Der dargestellte Sachverhalt ergibt sich aus den von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakten sowie aus den Angaben und Vorbringen der beschwerdeführenden Partei.
3. Rechtslage
Gemäß § 2 Abs. 1 lit. a Familienlastenausgleichsgesetz 1967 - FLAG 1967 haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, Anspruch auf Familienbeihilfe für minderjährige Kinder.
Nach § 2 Abs. 2 FLAG 1967 hat Anspruch auf Familienbeihilfe für ein im Abs 1 genanntes Kind die Person, zu deren Haushalt das Kind gehört. Eine Person, zu deren Haushalt das Kind nicht gehört, die jedoch die Unterhaltskosten für das Kind überwiegend trägt, hat dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn keine andere Person nach dem ersten Satz anspruchsberechtigt ist.
Gemäß § 2 Abs. 8 FLAG 1967 haben Personen nur dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sie den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet haben. Eine Person hat den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in dem Staat, zu dem sie die engeren persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen hat.
Wer Familienbeihilfe zu Unrecht bezogen hat, hat gemäß § 26 Abs. 1 FLAG 1967 die entsprechenden Beträge zurückzuzahlen.
Steuerpflichtigen, denen auf Grund des Familienlastenausgleichsgesetzes Familienbeihilfe gewährt wird, steht gemäß § 33 Abs. 3 Einkommensteuergesetz 1988 (EStG 1988) im Wege der gemeinsamen Auszahlung mit der Familienbeihilfe ein Kinderabsetzbetrag in näher genannter Höhe für jedes Kind zu.
§ 26 FLAG 1967 ist gemäß § 33 Abs. 3 EStG 1988 letzter Satz auch für zu Unrecht bezogene Kinderabsetzbeträge anzuwenden.
Die Oberbehörde ist ermächtigt, in Ausübung des Aufsichtsrechtes das zuständige Finanzamt anzuweisen, von der Rückforderung des unrechtmäßigen Bezuges abzusehen, wenn die Rückforderung unbillig wäre (§ 26 Abs. 4 FLAG 1967).
Staatsbürger von Vertragsparteien des Übereinkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) sind, soweit es sich aus dem genannten Übereinkommen ergibt, in diesem Bundesgesetz österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt. Hiebei ist der ständige Aufenthalt eines Kindes in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums nach Maßgabe der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen dem ständigen Aufenthalt eines Kindes in Österreich gleichzuhalten (§ 53 Abs. 1 FLAG 1967).
Die im Beschwerdefall maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1; im Folgenden Verordnung (EG) Nr. 883/2004) lauten auszugsweise:
"Artikel 1
Definitionen
Für Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
...
i) "Familienangehöriger":
1. i) jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird;
…
o) "Durchführungsverordnung" die in Artikel 89 genannte Verordnung;
p) "Träger" in jedem Mitgliedstaat die Einrichtung oder Behörde, der die Anwendung aller Rechtsvorschriften oder eines Teils hiervon obliegt;
q) "zuständiger Träger":
i) den Träger, bei dem die betreffende Person zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Leistungen versichert ist,
oder
ii) den Träger, gegenüber dem die betreffende Person einen Anspruch auf Leistungen hat oder hätte, wenn sie selbst oder ihr Familienangehöriger bzw. ihre Familienangehörigen in dem Mitgliedstaat wohnen würden, in dem dieser Träger seinen Sitz hat,
oder
iii) den von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bezeichneten Träger,
oder
iv) bei einem System, das die Verpflichtungen des Arbeitgebers hinsichtlich der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Leistungen betrifft, den Arbeitgeber oder den betreffenden Versicherer oder, falls es einen solchen nicht gibt, die von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bezeichnete Einrichtung oder Behörde;
r) "Träger des Wohnorts" und "Träger des Aufenthaltsorts" den Träger, der nach den Rechtsvorschriften, die für diesen Träger gelten, für die Gewährung der Leistungen an dem Ort zuständig ist, an dem die betreffende Person wohnt oder sich aufhält, oder, wenn es einen solchen Träger nicht gibt, den von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bezeichneten Träger;
s) "zuständiger Mitgliedstaat" den Mitgliedstaat, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat;
…
z) "Familienleistungen" alle Sach- und Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I."
"Artikel 2
Persönlicher Geltungsbereich
(1) Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.
…"
"Artikel 3
Sachlicher Geltungsbereich
(1) Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:
…
j) Familienleistungen."
"Artikel 4
Gleichbehandlung
Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates."
"Artikel 7
Aufhebung der Wohnortklauseln
Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat"
"Artikel 11
Allgemeine Regelung
(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
(2) Für die Zwecke dieses Titels wird bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Dies gilt nicht für Invaliditäts-, Alters- oder Hinterbliebenenrenten oder für Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten oder für Geldleistungen bei Krankheiten, die eine Behandlung von unbegrenzter Dauer abdecken.
(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:
a) eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;
…
e) jede andere Person, die nicht unter die Buchstaben a) bis d) fällt, unterliegt unbeschadet anders lautender Bestimmungen dieser Verordnung, nach denen ihr Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten zustehen, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats."
"Artikel 67
Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen
Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Ein Rentner hat jedoch Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rentengewährung zuständigen Mitgliedstaats."
"Artikel 68
Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen
(1) Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so gelten folgende Prioritätsregeln:
a) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren, so gilt folgende Rangfolge: an erster Stelle stehen die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche, darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche.
b) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, so richtet sich die Rangfolge nach den folgenden subsidiären Kriterien:
i) bei Ansprüchen, die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass dort eine solche Tätigkeit ausgeübt wird, und subsidiär gegebenenfalls die nach den widerstreitenden Rechtsvorschriften zu gewährende höchste Leistung. Im letztgenannten Fall werden die Kosten für die Leistungen nach in der Durchführungsverordnung festgelegten Kriterien aufgeteilt;
ii) bei Ansprüchen, die durch den Bezug einer Rente ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass nach diesen Rechtsvorschriften eine Rente geschuldet wird, und subsidiär gegebenenfalls die längste Dauer der nach den widerstreitenden Rechtsvorschriften zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten;
iii) bei Ansprüchen, die durch den Wohnort ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder.
(2) Bei Zusammentreffen von Ansprüchen werden die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Absatz 1 Vorrang haben. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren. Ein derartiger Unterschiedsbetrag muss jedoch nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird.
(3) Wird nach Artikel 67 beim zuständigen Träger eines Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften gelten, aber nach den Prioritätsregeln der Absätze 1 und 2 des vorliegenden Artikels nachrangig sind, ein Antrag auf Familienleistungen gestellt, so gilt Folgendes:
a) Dieser Träger leitet den Antrag unverzüglich an den zuständigen Träger des Mitgliedstaats weiter, dessen Rechtsvorschriften vorrangig gelten, teilt dies der betroffenen Person mit und zahlt unbeschadet der Bestimmungen der Durchführungsverordnung über die vorläufige Gewährung von Leistungen erforderlichenfalls den in Absatz 2 genannten Unterschiedsbetrag;
b) der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften vorrangig gelten, bearbeitet den Antrag, als ob er direkt bei ihm gestellt worden wäre; der Tag der Einreichung des Antrags beim ersten Träger gilt als der Tag der Einreichung bei dem Träger, der vorrangig zuständig ist."
"Artikel 68a
Gewährung von Leistungen
Verwendet die Person, der die Familienleistungen zu gewähren sind, diese nicht für den Unterhalt der Familienangehörigen, zahlt der zuständige Träger auf Antrag des Trägers im Mitgliedstaat des Wohnorts der Familienangehörigen, des von der zuständigen Behörde im Mitgliedstaat ihres Wohnorts hierfür bezeichneten Trägers oder der von dieser Behörde hierfür bestimmten Stelle die Familienleistungen mit befreiender Wirkung über diesen Träger bzw. über diese Stelle an die natürliche oder juristische Person, die tatsächlich für die Familienangehörigen sorgt."
"Artikel 76
Zusammenarbeit
(1) Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten unterrichten einander über:
a) alle zur Anwendung dieser Verordnung getroffenen Maßnahmen;
b) alle Änderungen ihrer Rechtsvorschriften, die die Anwendung dieser Verordnung berühren können.
(2) Für die Zwecke dieser Verordnung unterstützen sich die Behörden und Träger der Mitgliedstaaten, als handelte es sich um die Anwendung ihrer eigenen Rechtsvorschriften. Die gegenseitige Amtshilfe dieser Behörden und Träger ist grundsätzlich kostenfrei. Die Verwaltungskommission legt jedoch die Art der erstattungsfähigen Ausgaben und die Schwellen für die Erstattung dieser Ausgaben fest.
(3) Die Behörden und Träger der Mitgliedstaaten können für die Zwecke dieser Verordnung miteinander sowie mit den betroffenen Personen oder deren Vertretern unmittelbar in Verbindung treten.
(4) Die Träger und Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, sind zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit verpflichtet, um die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung zu gewährleisten.
Die Träger beantworten gemäß dem Grundsatz der guten Verwaltungspraxis alle Anfragen binnen einer angemessenen Frist und übermitteln den betroffenen Personen in diesem Zusammenhang alle erforderlichen Angaben, damit diese die ihnen durch diese Verordnung eingeräumten Rechte ausüben können.
Die betroffenen Personen müssen die Träger des zuständigen Mitgliedstaats und des Wohnmitgliedstaats so bald wie möglich über jede Änderung ihrer persönlichen oder familiären Situation unterrichten, die sich auf ihre Leistungsansprüche nach dieser Verordnung auswirkt.
…"
"Artikel 84
Einziehung von Beiträgen und Rückforderung von Leistungen
(1) Beiträge, die einem Träger eines Mitgliedstaats geschuldet werden, und nichtgeschuldete Leistungen, die von dem Träger eines Mitgliedstaats gewährt wurden, können in einem anderen Mitgliedstaat nach den Verfahren und mit den Sicherungen und Vorrechten eingezogen bzw. zurückgefordert werden, die für die Einziehung der dem entsprechenden Träger des letzteren Mitgliedstaats geschuldeten Beiträge bzw. für die Rückforderung der vom entsprechenden Träger des letzteren Mitgliedstaats nichtgeschuldeten Leistungen gelten.
(2) Vollstreckbare Entscheidungen der Gerichte und Behörden über die Einziehung von Beiträgen, Zinsen und allen sonstigen Kosten oder die Rückforderung nichtgeschuldeter Leistungen gemäß den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats werden auf Antrag des zuständigen Trägers in einem anderen Mitgliedstaat innerhalb der Grenzen und nach Maßgabe der in diesem Mitgliedstaat für ähnliche Entscheidungen geltenden Rechtsvorschriften und anderen Verfahren anerkannt und vollstreckt. Solche Entscheidungen sind in diesem Mitgliedstaat für vollstreckbar zu erklären, sofern die Rechtsvorschriften und alle anderen Verfahren dieses Mitgliedstaats dies erfordern.
(3) Bei Zwangsvollstreckung, Konkurs oder Vergleich genießen die Forderungen des Trägers eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat die gleichen Vorrechte, die die Rechtsvorschriften des letzteren Mitgliedstaats Forderungen gleicher Art einräumen.
(4) Das Verfahren zur Durchführung dieses Artikels, einschließlich der Kostenerstattung, wird durch die Durchführungsverordnung und, soweit erforderlich, durch ergänzende Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten geregelt."
Die im Beschwerdefall maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (im Folgenden Verordnung (EG) Nr. 987/2009) lauten auszugsweise:
"Artikel 4
Format und Verfahren des Datenaustauschs
(1) Die Verwaltungskommission legt die Struktur, den Inhalt, das Format und die Verfahren im Einzelnen für den Austausch von Dokumenten und strukturierten elektronischen Dokumenten fest.
(2) Die Datenübermittlung zwischen den Trägern oder Verbindungsstellen erfolgt elektronisch entweder unmittelbar oder mittelbar über die Zugangsstellen in einem gemeinsamen sicheren Rahmen, in dem die Vertraulichkeit und der Schutz der ausgetauschten Daten gewährleistet werden kann.
(3) Bei der Kommunikation mit den betroffenen Personen wenden die maßgeblichen Träger die für den Einzelfall geeigneten Verfahren an und verwenden so weit wie möglich vorzugsweise elektronische Mittel. Die Verwaltungskommission legt die praktischen Modalitäten für die Übermittlung von Informationen, Dokumenten oder Entscheidungen an die betreffende Person durch elektronische Mittel fest."
"Artikel 60
Verfahren bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Grundverordnung
(1) Die Familienleistungen werden bei dem zuständigen Träger beantragt. Bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Grundverordnung ist, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder von der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt, gestellt wird.
(2) Der nach Absatz 1 in Anspruch genommene Träger prüft den Antrag anhand der detaillierten Angaben des Antragstellers und berücksichtigt dabei die gesamten tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die die familiäre Situation ausmachen.
Kommt dieser Träger zu dem Schluss, dass seine Rechtsvorschriften nach Artikel 68 Absätze 1 und 2 der Grundverordnung prioritär anzuwenden sind, so zahlt er die Familienleistungen nach den von ihm angewandten Rechtsvorschriften.
Ist dieser Träger der Meinung, dass aufgrund der Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats ein Anspruch auf einen Unterschiedsbetrag nach Artikel 68 Abs. 2 der Grundverordnung bestehen könnte, so übermittelt er den Antrag unverzüglich dem zuständigen Träger des anderen Mitgliedstaats und informiert die betreffende Person; außerdem unterrichtet er den Träger des anderen Mitgliedstaats darüber, wie er über den Antrag entschieden hat und in welcher Höhe Familienleistungen gezahlt wurden.
(3) Kommt der Träger, bei dem der Antrag gestellt wurde, zu dem Schluss, dass seine Rechtsvorschriften zwar anwendbar, aber nach Artikel 68 Absätze 1 und 2 der Grundverordnung nicht prioritär anwendbar sind, so trifft er unverzüglich eine vorläufige Entscheidung über die anzuwendenden Prioritätsregeln, leitet den Antrag nach Artikel 68 Absatz 3 der Grundverordnung an den Träger des anderen Mitgliedstaats weiter und informiert auch den Antragsteller darüber. Dieser Träger nimmt innerhalb einer Frist von zwei Monaten zu der vorläufigen Entscheidung Stellung.
Falls der Träger, an den der Antrag weitergeleitet wurde, nicht innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Antrags Stellung nimmt, wird die oben genannte vorläufige Entscheidung anwendbar und zahlt dieser Träger die in seinen Rechtsvorschriften vorgesehenen Leistungen und informiert den Träger, an den der Antrag gerichtet war, über die Höhe der gezahlten Leistungen.
(4) Sind sich die betreffenden Träger nicht einig, welche Rechtsvorschriften prioritär anwendbar sind, so gilt Artikel 6 Absätze 2 bis 5 der Durchführungsverordnung. Zu diesem Zweck ist der in Artikel 6 Absatz 2 der Durchführungsverordnung genannte Träger des Wohnorts der Träger des Wohnorts des Kindes oder der Kinder.
(5) Der Träger, der eine vorläufige Leistungszahlung vorgenommen hat, die höher ist als der letztlich zu seinen Lasten gehende Betrag, kann den zu viel gezahlten Betrag nach dem Verfahren des Artikels 73 der Durchführungsverordnung vom vorrangig zuständigen Träger zurückfordern."
"Artikel 73
Vorläufig gezahlte Geldleistungen oder Beiträge
(1) Bei der Anwendung von Artikel 6 der Durchführungsverordnung erstellt der Träger, der die Geldleistungen vorläufig gezahlt hat, spätestens drei Monate nach Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften oder Ermittlung des für die Zahlung der Leistungen verantwortlichen Trägers eine Abrechnung über den vorläufig gezahlten Betrag und übermittelt diese dem als zuständig ermittelten Träger.
Der für die Zahlung der Leistungen als zuständig ermittelte Träger behält im Hinblick auf diese vorläufige Zahlung den geschuldeten Betrag von den nachzuzahlenden Beträgen der entsprechenden Leistungen, die er der betreffenden Person schuldet, ein und überweist den einbehaltenen Betrag unverzüglich dem Träger, der die Geldleistungen vorläufig gezahlt hat.
Geht der Betrag der vorläufig gezahlten Leistungen über den nachzuzahlenden Betrag hinaus, oder sind keine nachzuzahlenden Beträge vorhanden, so behält der als zuständig ermittelte Träger diesen Betrag unter den Bedingungen und in den Grenzen, die nach den von ihm anzuwendenden Rechtsvorschriften für einen solchen Ausgleich vorgesehen sind, von laufenden Zahlungen ein und überweist den einbehaltenen Betrag unverzüglich dem Träger, der die Geldleistungen vorläufig gezahlt hat.
(2) Der Träger, der von einer juristischen und/oder natürlichen Person vorläufig Beiträge erhalten hat, erstattet die entsprechenden Beträge erst dann der Person, die diese Beiträge gezahlt hat, wenn er bei dem als zuständig ermittelten Träger angefragt hat, welche Summen diesem nach Artikel 6 Absatz 4 der Durchführungsverordnung zustehen.
Auf Antrag des als zuständig ermittelten Trägers, der spätestens drei Monate nach Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften gestellt werden muss, überweist der Träger, der Beiträge vorläufig erhalten hat, diese dem als zuständig ermittelten Träger zur Bereinigung der Situation hinsichtlich der Beiträge, die die juristische und/oder natürliche Person diesem Träger schuldet. Die überwiesenen Beiträge gelten rückwirkend als an den als zuständig ermittelten Träger gezahlt.
Übersteigt der Betrag der vorläufig gezahlten Beiträge den Betrag, den die juristische und/oder natürliche Person dem als zuständig ermittelten Träger schuldet, so erstattet der Träger, der die Beiträge vorläufig erhalten hat, den überschüssigen Betrag an die betreffende juristische und/oder natürliche Person."
Nach Art. 19 des Bundesgesetzes über die Familienzulagen und Finanzhilfen an Familienorganisationen der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom (Familienzulagengesetz, FamZG, AS 2008, 131) gelten in der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) obligatorisch versicherte Personen, die bei der AHV als nichterwerbstätige Personen erfasst sind, als Nichterwerbstätige. Sie haben Anspruch auf Familienzulagen nach den Bestimmungen des FamZG.
Haben mehrere Personen für das gleiche Kind Anspruch auf Familienzulagen nach eidgenössischem oder kantonalem Recht, so steht der Anspruch in nachstehender Reihenfolge zu:
a. der erwerbstätigen Person;
b. der Person, welche die elterliche Sorge hat oder bis zur Mündigkeit des Kindes hatte;
c. der Person, bei der das Kind überwiegend lebt oder bis zu seiner Mündigkeit lebte;
d. der Person, auf welche die Familienzulagenordnung im Wohnsitzkanton des Kindes anwendbar ist;
e. der Person mit dem höheren AHV-pflichtigen Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit;
f. der Person mit dem höheren AHV-pflichtigen Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit. (Art. 7 FamZG)
Anspruchsberechtigte Personen, die auf Grund eines Gerichtsurteils oder einer Vereinbarung zur Zahlung von Unterhaltsbeiträgen für Kinder verpflichtet sind, müssen die Familienzulagen zusätzlich zu den Unterhaltsbeiträgen entrichten (Art. 8 FamZG).
Werden die Familienzulagen nicht für die Bedürfnisse einer Person verwendet, für die sie bestimmt sind, so kann diese Person oder ihr gesetzlicher Vertreter verlangen, dass ihr die Familienzulagen in Abweichung von Artikel 20 Absatz 1 ATSG auch ohne Fürsorgeabhängigkeit ausgerichtet werden (Art. 9 FamZG).
4. Rechtliche Beurteilung
Die VO (EG) Nr. 883/2004 ist im Verhältnis mit der Schweiz seit anzuwenden (vgl. Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG2, § 4 Rz 4).
Nach Art. 11 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 883/2004 unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a der VO (EG) Nr. 883/2004 normiert dazu, dass eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt.
Jede andere Person, die nicht unter Art. 11 Abs. 3 Buchstaben a bis d der VO (EG) Nr. 883/2004 fällt, unterliegt unbeschadet anders lautender Bestimmungen dieser Verordnung, nach denen ihr Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten zustehen, gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchstabe e der VO (EG) Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats.
Eine Person hat nach Art. 67 der VO (EG) Nr. 883/2004 auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.
Aus Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 in Verbindung mit Art. 60 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 ergibt sich zum einen, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen auch für Familienangehörige erheben kann, die in einem anderen als dem für ihre Gewährung zuständigen Mitgliedstaat wohnen, und zum anderen, dass die Möglichkeit, Familienleistungen zu beantragen, nicht nur den Personen zuerkannt ist, die in dem zu ihrer Gewährung verpflichteten Mitgliedstaat wohnen, sondern auch allen "beteiligten Personen", die berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben, zu denen die Eltern des Kindes gehören, für das die Leistungen beantragt werden (vgl. , Trapkowski, Rn. 38).
Der Kindesvater war nach den Feststellungen der belangten Behörde im hier maßgeblichen Zeitraum in der Schweiz wohnhaft und erwerbstätig. Die in Österreich wohnhafte Bf. bezog in Österreich Sozialhilfe, wobei diese Leistung nicht zu jenen Bezügen zählt, welche nach Art. 11 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 einer Beschäftigung gleichgestellt sind.
Nach Art. 68 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 883/2004 werden die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt werden, die nach Absatz 1 Vorrang haben. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrages der Leistungen zu gewähren.
Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 bezweckt, einen doppelten Ausgleich dieser Lasten durch ungerechtfertigte Überzahlung zugunsten der Familie des Arbeitnehmers zu verhindern. Diese Bestimmung ist demnach so auszulegen, dass durch sie die Zahlung paralleler Sozialleistungen aufgrund ein und derselben Situation für denselben Zeitraum verhindert wird. Bei der Vermeidung der Kumulierung von Familienleistungen nach der VO kommt es nicht darauf an, ob der andere Elternteil infolge eigener Beschäftigung oder selbständiger Erwerbstätigkeit ebenfalls in den persönlichen Anwendungsbereich der VO fällt oder ob der andere Elternteil lediglich in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, ohne berufstätig zu sein, und allein aufgrund seines Wohnsitzes einen Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates hat. Beide Kumulierungen sind gleichermaßen durch Art 68 der VO zu verhindern (vgl. Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG2, § 53 Rz 297 mit Verweis auf , Kromhout, Rn 14 bis 16).
Gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchstabe a der VO (EG) Nr. 883/2004 besteht vorrangig im Beschäftigungsstaat Anspruch auf Familienleistungen, nachrangig im Rentenstaat und erst an dritter Stelle im Wohnsitzstaat.
Auf Grund der Beschäftigung des Kindesvaters in Schweiz besteht für den Rückforderungszeitraum somit ein vorrangiger Anspruch auf Familienleistungen in der Schweiz. Dieser vorrangige Anspruch wurde auch in der Schweiz anerkannt und wurde vom zuständigen Träger (SVA Zürich) an die belangte Behörde im Rahmen des elektronischen Datenaustauschs gemeldet.
Der Wohnsitzstaat Österreich ist nachrangig zur Zahlung der Familienleistungen zuständig, sodass im Inland allenfalls ein Anspruch auf Ausgleichszahlung besteht, wenn die Familienleistungen in Österreich höher sind als in der Schweiz.
Davon zu unterscheiden ist die Frage, wer von den Elternteilen Anspruch auf Familienbeihilfe hat, da es der zuständigen nationalen Behörde obliegt, zu bestimmen, welche Personen nach nationalem Recht Anspruch auf Familienleistungen haben (vgl. , Trapkowski, Rn. 40).
Art. 68 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 wird durch Art. 81 der Verordnung ergänzt, wonach die Stellung eines Antrags bei einer Behörde, einem Träger oder einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats als des Mitgliedstaats, der die Leistungen zu erbringen hat, die gleichen Wirkungen hat, wie wenn dieser Antrag unmittelbar bei der zuständigen Stelle des letztgenannten Mitgliedstaats eingereicht worden wäre, und der Tag, an dem dieser Antrag beim ersten Mitgliedstaat eingegangen ist, als Tag des Eingangs bei der zuständigen Behörde, dem zuständigen Träger oder dem zuständigen Gericht gilt.
Diese Bestimmungen sollen die Freizügigkeit von Wanderarbeitnehmern erleichtern, indem sie ihr Vorgehen angesichts der Komplexität der Verwaltungsverfahren in den verschiedenen Mitgliedstaaten administrativ vereinfachen, und verhindern, dass die Betroffenen aus rein formalen Gründen ihre Ansprüche verlieren können.
Gleichwohl sind alle anderen formellen und materiellen Voraussetzungen, die in den Rechtsvorschriften des vorrangig zuständigen Mitgliedstaats bestimmt sind, zu erfüllen, da zwischen der Einreichung eines Antrags auf Familienleistungen und dem Anspruch auf diese Leistungen zu unterscheiden ist (vgl. , Familienkasse Sachsen, Rn. 51, 52 u. 54).
Ein in einem nachrangig zuständigen Mitgliedstaat der Europäischen Union gestellter Antrag auf Familienleistungen löst die Fiktionswirkung, wonach er zugleich im vorrangig zuständigen Staat gestellt gilt, auch dann aus, wenn der Träger, bei dem der Antrag gestellt wird, keine Kenntnis davon hat, dass ein Sachverhalt mit Auslandsbezug vorliegt, z.B. weil - wie hier vorliegend - die Bf. das Finanzamt vom Wohnort und der Erwerbstätigkeit des Kindesvaters in der Schweiz bei der Antragstellung nicht informiert hat (vgl. BFH , III R 73/18).
Ob die Bf. sohin einen formellen Antrag in der Schweiz gestellt hat, ist unerheblich, da es nur auf den bestehenden (in der Schweiz bereits anerkannten) Anspruch ankommt. Es liegt an der Bf., diesen Anspruch durchzusetzen.
Gemäß § 2 Abs. 1 FLAG 1967 haben Anspruch auf Familienbeihilfe Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben u.a. für haushaltszugehörige minderjährige Kinder.
Der Anspruch wegen Haushaltszugehörigkeit nach § 2 Abs. 1 FLAG 1967 ist gegenüber dem Anspruch wegen überwiegender Unterhaltstragung nach § 2 Abs. 2 FLAG 1967 nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut vorrangig.
Daher hat die Bf. in Österreich den (gegenüber der Schweiz nachrangigen) Anspruch auf Familienbeihilfe.
Die in der Schweiz gewährte Familienzulage übersteigt betragsmäßig regelmäßig die österreichische Familienbeihilfe inklusive Kinderabsetzbetrag, sodass in den betreffenden Monaten eine Differenz- bzw. Ausgleichszahlung grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Soweit die Familienbeihilfe samt Kinderabsetzbetrag (ausnahmsweise) höher war als die in der Schweiz für diesen Monat zu gewährende Familienzulage, wurde die zu gewährende Ausgleichszahlung bei der Rückforderung durch die belangte Behörde bereits berücksichtigt.
Weder die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 noch die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 sehen ein Erstattungsverfahren für den Fall vor, dass ein Mitgliedstaat Familienleistungen für einen Zeitraum ausgezahlt hat, für den sich nachträglich herausstellt, dass ein anderer Mitgliedstaat (hier die Schweiz) vorrangig zuständig gewesen ist.
In einer zu Unrecht ausgezahlten Familienbeihilfe samt Kinderabsetzbetrag ist eine nichtgeschuldete Leistung, die von dem Träger eines Mitgliedstaats gewährt wurde, zu erblicken. Auch die Bestimmung des Art. 84 der VO (EG) Nr. 883/2004 sieht nicht vor, dass anstelle einer Rückforderung von zu Unrecht bezogener Familienbeihilfe nach § 26 FLAG 1967 eine Direktverrechnung der vom österreichischen Träger zu Unrecht geleisteten Beträge mit dem Träger des anderen Mitgliedstaats, der sich seinerseits das Geld von seinem Staatsbürger zurückholt, vorzunehmen wäre (vgl. Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG2, § 53 Rz 387 u. 389).
Dem Vorbringen der Bf., dass die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dem Kindesvater ermöglicht habe, jahrelang Leistungen zu Unrecht zu beziehen, ist entgegenzuhalten, dass Art. 76 Abs. 4 Unterabs. 3 der angesprochenen Verordnung entsprechende Informationspflichten vorsieht. Demnach müssen die betroffenen Personen die Träger des zuständigen Mitgliedstaats und des Wohnmitgliedstaats so bald wie möglich über jede Änderung ihrer persönlichen oder familiären Situation unterrichten, die sich auf ihre Leistungsansprüche nach dieser Verordnung auswirkt.
Dass das Finanzamt im Zuge der Antragstellung im September 2020 durch die Bf. über den Wohnort und die Erwerbstätigkeit des Kindesvaters in der Schweiz informiert worden wäre, wird weder in der Beschwerde noch im Vorlageantrag behauptet.
Aus § 26 Abs. 1 FLAG 1967 ergibt sich eine rein objektive Rückzahlungspflicht desjenigen, der die Familienbeihilfe zu Unrecht bezogen hat. Es kommt nur auf die objektive Rechtswidrigkeit des Bezugs von Familienbeihilfe an, also auf das Fehlen der Anspruchsvoraussetzungen für den Leistungsbezug. Subjektive Momente, wie Verschulden an der (ursprünglichen oder weiteren) Auszahlung der Familienbeihilfe, gutgläubiger Empfang oder gutgläubige Verwendung der Beihilfe, sind nach ständiger Rechtsprechung des VwGH für die Verpflichtung zur Rückerstattung unrechtmäßiger Beihilfenbezüge unerheblich. Entscheidend ist lediglich, ob der Empfänger die Beträge zu Unrecht erhalten hat (Wanke in Lenneis/Wanke (Hrsg.), FLAG2, § 26 Rz 12 f und die dort angeführte Judikatur).
Mitteilungen über den Bezug von Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag gemäß § 12 FLAG 1967 stehen einer Rückforderung gemäß § 26 FLAG 1967 nicht entgegen. Einer Rückforderung stünde auch nicht entgegen, wenn der unrechtmäßige Bezug ausschließlich durch das Finanzamt verursacht worden wäre ().
Aus den angeführten Gründen musste daher die Beschwerde als unbegründet abgewiesen werden.
Abschließend wird der Vollständigkeit halber und ohne Präjudiz angemerkt, dass bei Vorliegen der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 236 BAO in Verbindung mit § 3 Z. 2 lit. a der Verordnung des Bundesministers für Finanzen betreffend Unbilligkeit der Einhebung im Sinn des § 236 BAO, BGBl. II Nr. 435/2005 i.d.g.F., auch eine allfällige Nachsicht des Rückforderungsbetrages in Betracht kommt. Das antragsgebundene Verfahren auf Nachsicht gemäß § 236 BAO (Abschreibung von Abgabenschuldigkeiten) ist ein von der Rückforderung getrenntes Verfahren. Die Gewährung einer Nachsicht liegt im Ermessen des Finanzamts und kann bei Versagung der beantragten Nachsicht in einem Rechtsmittelverfahren angefochten werden. Die Nachsicht setzt keine Weisung der Oberbehörde nach § 26 Abs. 4 FLAG 1967 voraus (vgl. Wanke in Lenneis/Wanke (Hrsg.), FLAG2, § 26 Rz 78).
5. Zulässigkeit einer Revision
Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Die vorliegende Entscheidung orientiert sich an der zitierten Rechtsprechung des EuGH, sodass keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iSd Art 133 Abs. 4 B-VG vorliegt und daher eine Revision nicht zulässig ist.
Linz, am
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Materie | Steuer |
betroffene Normen | Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 Art. 11 Abs. 3 Buchstabe e VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 Art. 67 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 Art. 68 Abs. 1 Buchstabe a VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 Art. 68 Abs. 2 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 Art. 68 Abs. 3 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 Art. 60 Abs. 1 VO 987/2009, ABl. Nr. L 284 vom S. 1 § 2 Abs. 1 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 § 26 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 |
Verweise | |
ECLI | ECLI:AT:BFG:2025:RV.5100396.2024 |
Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at
Fundstelle(n):
GAAAF-48494