VfGH vom 30.06.2015, E1054/2014

VfGH vom 30.06.2015, E1054/2014

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Bestrafung des Beschwerdeführers nach dem SicherheitspolizeiG wegen Störung einer Nationalratssitzung

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer warf während der Rede eines Abgeordneten im Rahmen einer Sitzung des Nationalrates vom mehrere Flugblätter von der Besuchergalerie des Parlaments in den Plenarsaal und rief dabei u.a. "Frechheit und Sauerei, Österreich ist ein korruptes Land!". Mehrere anwesende Medienvertreter hielten das Geschehen fest. Die vorsitzführende Nationalratspräsidentin unterbrach daraufhin die Sitzung für kurze Zeit. Der Beschwerdeführer kam der Aufforderung des Sicherheitspersonals widerstandslos nach, die Besuchergalerie zu verlassen.

2. Wegen dieses Vorfalls erging am ein Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Wien, auf Grund dessen dem Beschwerdeführer gestützt auf § 81 Abs 1 des Sicherheitspolizeigesetzes (SPG) die Zahlung einer Geldstrafe von € 100,–, im Falle der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe von 100 Stunden, sowie ein Kostenbeitrag zum Strafverfahren in Höhe von € 10,– auferlegt wurde. Das Verwaltungsgericht Wien bestätigte das angefochtene Straferkenntnis mit Erkenntnis vom mit der Maßgabe, dass die Ersatzfreiheitsstrafe auf zwei Tage herabgesetzt werde.

Wörtlich führt das Verwaltungsgericht Wien u.a. wie folgt aus:

"Das Verhalten des Beschwerdeführers erfüllt [den] Tatbestand [des § 81 Abs 1 SPG].

Es ist wesentlicher Teil des Parlamentarismus, dass neben der durch Medienvertreter und durch Ton- und Bildaufzeichnungen gewährleisteten Öffentlichkeit des parlamentarischen Geschehens es auch möglich ist, Debatten des Nationalrates vor Ort zu verfolgen. Die Besuchergalerie des Parlaments kann jedoch kein Ort für politische Manifestationen sein und stellt die Störung einer Parlamentssitzung – aus welchen politischen oder sonstigen Motiven auch immer – eine ungerechtfertigte Störung der öffentlichen Ordnung dar. Eine Störung, die sogar zu einer Unterbrechung der parlamentarischen Debatte führt, muss jedenfalls auch als rücksichtslos angesehen werden."

3. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten insbesondere wegen denkunmöglicher Gesetzesanwendung behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

4. Das Verwaltungsgericht Wien legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor und verzichtete auf die Erstattung einer Äußerung.

II. Rechtslage

1. Die §§27 und 81 des Bundesgesetzes über die Organisation der Sicherheitsverwaltung und die Ausübung der Sicherheitspolizei (SicherheitspolizeigesetzSPG), BGBl 566/1991 idF BGBl I 13/2012, lauten auszugsweise:

"Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung

§27. (1) Den Sicherheitsbehörden obliegt die Aufrechterhaltung der Ordnung an öffentlichen Orten. Hiebei haben sie auf das Interesse des Einzelnen, seine Grund- und Freiheitsrechte ungehindert auszuüben, besonders Bedacht zu nehmen.

(2) Öffentliche Orte sind solche, die von einem nicht von vornherein bestimmten Personenkreis betreten werden können.

[…]

Störung der öffentlichen Ordnung

§81. (1) Wer durch besonders rücksichtsloses Verhalten die öffentliche Ordnung ungerechtfertigt stört, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu 350 Euro zu bestrafen. Anstelle einer Geldstrafe kann bei Vorliegen erschwerender Umstände eine Freiheitsstrafe bis zu einer Woche, im Wiederholungsfall bis zu zwei Wochen verhängt werden.

(2) Von der Festnahme eines Menschen, der bei einer Störung der öffentlichen Ordnung auf frischer Tat betreten wurde und der trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht (§35 Z 3 VStG), haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes abzusehen, wenn die Fortsetzung oder Wiederholung der Störung durch Anwendung eines oder beider gelinderer Mittel (Abs3) verhindert werden kann.

(3) Als gelindere Mittel kommen folgende Maßnahmen der unmittelbaren Befehls- und Zwangsgewalt in Betracht:

1. die Wegweisung des Störers vom öffentlichen Ort;

2. das Sicherstellen von Sachen, die für die Wiederholung der Störung benötigt werden.

(4) – (6) […]"

2. § 13 des Bundesgesetzes vom über die Geschäftsordnung des Nationalrates (Geschäftsordnungsgesetz 1975, im Folgenden: GOG 1975) in der geltenden Stammfassung BGBl 410 lautet auszugsweise:

"(1) Der Präsident wacht darüber, daß die Würde und die Rechte des Nationalrates gewahrt, die dem Nationalrat obliegenden Aufgaben erfüllt und die Verhandlungen mit Vermeidung jedes unnötigen Aufschubes durchgeführt werden.

(2) Er handhabt die Geschäftsordnung, achtet auf ihre Beobachtung und sorgt für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Sitzungssaale.

(3) Der Präsident eröffnet und schließt die Sitzungen, führt den Vorsitz, leitet die Verhandlung, erteilt das Wort, stellt die Fragen zur Abstimmung und spricht deren Ergebnis aus. Er ist jederzeit, insbesondere im Falle einer Störung, berechtigt, die Sitzung auf bestimmte oder unbestimmte Zeit zu unterbrechen. Er läßt Ruhestörer von den Galerien entfernen und diese im äußersten Falle räumen.

(4) – (8) […]"

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat.

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).

3. Ein solcher Fehler ist dem Verwaltungsgericht Wien unterlaufen:

3.1. Die Aufgaben der Präsidentin bzw. des Präsidenten des Nationalrates sind im dritten Abschnitt des GOG 1975 geregelt. Gemäß der §§13, 14 GOG 1975 obliegt ihr/ihm insbesondere die Ausübung der Sitzungspolizei und des Hausrechtes in den Parlamentsgebäuden sowie die Erlassung einer Hausordnung. In § 13 Abs 3 dritter Satz GOG 1975 ist ausdrücklich die Möglichkeit vorgesehen, Ruhestörer von der Besuchergalerie entfernen zu lassen.

3.2. Die angefochtene Entscheidung ahndet ein Verhalten des Beschwerdeführers, mit dem er als Besucher einer Nationalratssitzung während dieser Sitzung den Ablauf derart störte, dass er letztlich gemäß § 13 Abs 3 dritter Satz GOG 1975 aufgefordert wurde, die Besuchergalerie und das Parlament zu verlassen. Diese Ausübung der Sitzungspolizei ist durch das GOG 1975 und die Hausordnung, deren Vollziehung ausschließlich der Gesetzgebung zusteht (vgl. VfSlg 11.882/1988), abschließend geregelt. Für die nachträgliche Bestrafung gemäß § 81 SPG bleibt in Fällen wie diesen kein Raum, wurde die Störung doch durch die Ausübung der Sitzungspolizei beendet.

3.3. Aus diesen Gründen hat das Verwaltungsgericht Wien das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

2. Das angefochtene Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2015:E1054.2014